Von anderen Mobilitäten. Verkörperungen und Narrative zwischen Stilllegung und Mobilisierung
(in German)
Chair: Nicola Kopf (University of Vienna)
Co-Chair: Romana Bund (University of Vienna)
Johanna Chovanec (University of Vienna)
Katrin Dennerlein (University of Würzburg)
Olja Alvir (University of Vienna)
Michaela Bstieler (University of Innsbruck)
Der türkische Aufbruch in die Moderne? Mobilität und Stillstand in Peyami Safas Roman Fatih-Harbiye
Johanna Chovanec
Die Auseinandersetzung mit den Paradigmen der europäischen Moderne wie dem Fortschrittsgedanken und die Frage nach Verwestlichung und Europäisierung gehören zu den Hauptthemen der türkischen Literaturgeschichte. Der Untergang des Osmanischen Reiches und die Gründung der Republik Türkei (1923) führten zu breiten Debatten über die Orientierung der Türkei an ›westlichen‹ oder ›östlichen‹ Lebensweisen. In seinem frührepublikanischen Roman Fatih-Harbiye (1930) kontrastiert der bekannte Autor und Schriftsteller Peyami Safa die ›östlichen‹ Lebensrealitäten des konservativen Istanbuler Stadtteils Fatih mit jenen des ›westlich‹ geprägten Bezirks Beyoğlu anhand einer Dreiecksliebesgeschichte. Die junge Neriman möchte aus dem ärmlichen familiären Kontext in Fatih und aus ihrer Beziehung mit Şinasi ausbrechen und unternimmt regelmäßige Ausflüge nach Beyoğlu, wo sie den reichen und europäisch orientierten Macit kennenlernt. Die Straßenbahnlinie zwischen Fatih und Beyoğlu wird zum Symbol von Nerimans Mobilität: Während der melancholische, vergangenheitsbezogene Şinasi sein Viertel nicht verlässt, ist es Neriman, die die Grenzen zwischen diesen zwei als unvereinbar dargestellten Welten regelmäßig übertritt. Dieser Vortrag untersucht, inwiefern im Roman die Kategorien »Weiblichkeit« und »westliche Lebensweise« anhand der Figur von Neriman mit Mobilität und Zukunft verbunden werden. Gleichzeitig wird gezeigt, inwiefern »Männlichkeit« und »östliche Lebensweise« mit Stillstand und der Vergangenheit in Bezug gebracht werden. Die oftmals dichotomen Zuschreibungen und Bruchlinien werden unter der Berücksichtigung konzeptueller Zugänge aus der Okzidentalismus-Forschung beleuchtet.
(EN)
The engagement with paradigms of European modernity such as progress and Westernization are key themes in Turkish literary history. The downfall of the Ottoman Empire and the foundation of the Republic of Turkey (1923) led to broad public debates about Turkey’s orientation towards ‘Western’ or ‘Eastern’ ideals. Peyami Safa’s early republican and post-imperial novel Fatih-Harbiye (1930) contrasts Istanbul’s rather conservative district Fatih with the modern, westernized quarter of Beyoğlu through the inner conflict of a young woman. Neriman is torn between what is described as Eastern lifestyles and values represented by her soon-to-be husband Şinasi, and the fancy, westernized lifeworlds of Macit who catches her romantic interest. Female mobility and male immobility are key vectors by means of which Safa approaches the East-West topic in his novel: the so-called Fatih-Harbiye tram functions as a symbol of Neriman’s mobility. Whereas Şinasi stays within the confines of the Fatih mahalle, Neriman profits from the possibilities of new mobility as well as the more visible public role of women in Kemalist Turkey. The presentation will show how the categories of masculinity and ‘Eastern lifestyle’ are connected with the (imperial) past and standstill while femininity and ‘Western lifestyle’ relate to the (national) future and mobility. These dichotomous conceptions are analyzed by drawing on theoretical approaches from Occidentalism research.
Johanna Chovanec is a doctoral fellow of the Austrian Academy of Sciences and the German Academic Scholarship Foundation at the Department of Comparative Literature, University of Vienna. She conducted her bachelor and master studies in comparative literature at University of Vienna and Bilgi University Istanbul. Her PhD research focuses on Occidentalism and images of self and other in modern Turkish literature. Previously, she worked as a scientific employee for the EU Horizon 2020 project »The future of EU-Turkey relations« at Sabancı University, Istanbul. Her key research areas further include post-imperial narratives in Turkish literature and comparative empire studies. Among her recent publications are the co-edited volumes Narrated Empires (Palgrave 2021) and Türkeiforschung im deutschsprachigen Raum (Springer 2020).
Vigilanz und Muße in literarischen Texten des langen 19. Jahrhunderts
Kathrin Dennerlein
Das Prinzip der Vigilanz meint Aufmerksamkeit, die durch bestimmte, zumeist überindividuell festgelegte, Ziele bedingt bzw. motiviert ist. Anders gesagt handelt es sich um die Aufforderung auf etwas zu achten, etwas zu tun oder etwas anzuzeigen. Für literarische Texte mit ihren fiktionalen Welten ist zu fragen, wie die Texte selbst Vigilanzkriterien etablieren bzw. affirmieren und inwiefern sie von den Figuren bzw. Sprecherinstanzen der Texte als extern oder als internalisiert konzipiert werden. Die Vigilanz erzeugt zumindest eine kognitive Mobilisierung, beinhaltet aber fast immer auch einen Aktions- und damit Bewegungsimpuls. Dieser kann auf einer Skala von wacher Aufmerksamkeit bzw. Sinnesschärfe gepaart mit zielorientiertem Handeln bis hin zu Überalarmiertheit und Aktionismus auf der anderen Seite eingeordnet werden. Durch die Mobilität, die der Vigilanz inhärent ist, ist sie als auch mit zentralen Momenten der Handlung verknüpft. Der wachsamen Mobiltät steht von jeher in der Literatur die Erzählung von Stillstand gegenüber, sei es als Muße, in der die Gedanken ohne Ziel und Nutzen schweifen, sei es als contemplatio oder studium. Diese Konzepte sind mit (geistigem) Innehalten, mit verringerter Mobilität oder Ortsstabilität verknüpft. Im Vortrag sollen ausgewählte deutschsprachige Erzähltexte des 19. Jahrhunderts auf die Verflechtung von Vigilanz und Formen des Stillstandes hin untersucht werden. Dieses Jahrhundert ist mit der Veränderung seine Betonung des Phantastischen sowie der Beschleunigung der Verkehrs- und Kommunikationsformen ein Zeitraum, in dem in der Literatur mit vielen verschiedenen Ausgestaltungen und Bewertungen von wachsamer Mobilität und Stillstand und ihren Auswirkungen auf Wahrnehmung und Empfinden experimentiert wird.
(EN)
The principle of vigilance means attention that is conditioned or motivated by certain, mostly supra-individually determined, goals. In other words, it is the call to pay attention to something, to do something, or to display something. For literary texts with their fictional worlds, it is necessary to ask how the texts themselves establish or affirm criteria of vigilance and to what extent they are conceived by the characters or speaker instances of the texts as external or as internalized. Vigilance produces at least a cognitive mobilization, but almost always also involves an action and thus movement impulse. This can be classified on a scale from alert attention or sensory acuity coupled with goal-oriented action on the one hand, to hyper-alertness and actionism on the other hand. Due to the mobility inherent in vigilance, it is also linked to central moments of action. However, vigilant mobility has always been contrasted in literature with the narrative of standstill, whether as idleness, leisure or benefit, or as contemplatio or studium. These concepts are linked to (mental) pausing, to reduced mobility or stability of place. The paper will examine selected 19th-century German-language narrative texts for the intertwining of vigilance and forms of stasis. This century, with its change, its emphasis on the fantastic as well as the acceleration of forms of transport and communication, is a period in which literature experiments with many different configurations and evaluations of vigilant mobility and standstill and with their effects on perception and sensation.
Katrin Dennerlein is lecturer at the University of Würzburg. She is currently working as project leader of the computational literary studies project »Emotions in Drama« where she explores emotions with historical hermeneutic as well as computational methods. She did her PhD on a narratology of space and wrote her second book (Habilitation) on German comedy in the 17th and 18th century. Among her research interests are German drama and opera from 1500 to 1850, novels around 1800, mixed methods in digital humanities, and narrated space and mobility in novellas and novels from the 19th century to today.
Resistant Branches – Körper, Boden und Widerstand in Charles W. Chesnutts Plantagen-Erzählungen
Olja Alvir
Auch nach weiter zunehmender Aufmerksamkeit für afroamerikanische Literatur im Rahmen der #BlackLivesMatter-Bewegung bleibt einer ihrer Pioniere weitestgehend unbekannt: Charles W. Chesnutt. Der mixed-race Autor arbeitete zwischen 1899 und 1906 intensiv mit dem Verlagshaus Houghton-Mifflin zusammen und hinterließ noch vor der Harlem Renaissance ein zukunftsweisendes Œuvre. Sein Kurzgeschichtenband The Conjure Woman (1899) stellt sich sowohl in die Tradition antiker Metamorphosen als auch in die der Schauerromantik. Doch Chesnutt verwendet eben diese – für weiße Leser_innen und Kolonialmächte identitätsstiftende – Stoffe und Erzählkonventionen raffiniert, um Konstruktions-Mechanismen des »Eigenen« und »Fremden« zu enthüllen und zu kritisieren. Nicht zuletzt schildert er die Auswirkungen kolonialer Gewalt und Prozesse auf Menschen und Landschaft. Kernstück der Chesnutt’schen Subversion sind Erzählungen, in denen versklavte Menschen in Bäume oder Pflanzen verwandelt werden. Diese Verwandlungen in unzertrennlich mit dem Boden, der Landschaft verbundenen Lebewesen sind für die versklavten Figuren meist der einzige Ausweg aus dem kolonialrassistischen System, das durch die gewaltsame Bewegung von othered bodies kenngezeichnet ist. Durch die in The Conjure Woman vollzogene Identifikation zwischen Körpern und Boden beziehungsweise Landschaft und ihren Gewächsen betont Chesnutt die Zusammenhänge, also das entanglement, zwischen der kolonialistischen Aneignung von Land und gewaltsamen Unterwerfung von Körpern – die Rodung des nordamerikanischen Kontinents durch die sogenannten Settler wird beispielsweise ganz klar mit den Lynchmorden an Schwarzen in Zusammenhang gestellt, indem versklavte Körper und Bäume eins werden. Chesnutt legt weiters die ökonomischen Wurzeln der Narrative weißer Suprematie frei und schlägt alternative (ökologisch nachhaltigere) Formen des Mensch-Seins in und mit der Natur vor. Nicht zuletzt ist, und das ist die zentrale Fragestellung dieses Vortrags, bei Chesnutt die Verbindung zum Boden – they shall not be moved – eine Repräsentation von Widerstand gegen koloniale beziehungsweise rassistische Gewalt.
(EN)
Although attention to African-American literature continues to grow due in part to the #BlackLivesMatter movement, one of its pioneers remains largely unknown: Charles W. Chesnutt. Between 1899 and 1906, the mixed-race author worked extensively with the publishing house Houghton-Mifflin, leaving behind a groundbreaking oeuvre well before the Harlem Renaissance. His short story collection The Conjure Woman (1899) places itself in the tradition of both classical metamorphoses and gothic romanticism. Yet Chesnutt makes sophisticated use of these sources and narrative conventions – the very same ones that created identity for white readers and colonial powers – in order to expose and criticize construction mechanisms of the »self« and the »other«. At the same time, he describes the effects of colonial violence and practices on people and landscape. At the root of Chesnutt’s subversion are narratives in which enslaved people are transformed into trees or plants. Stories about enslaved people that are transformed into plants or trees lie at the root of Chesnutt’s subversion. By identifying bodies with soil (or the landscape with its plants) in The Conjure Woman, Chesnutt emphasizes the connections – the entanglement – between the colonialist appropriation of land and the violent subjugation of bodies. The deforestation of the North American continent by the so-called settlers, for example, is clearly linked to the lynchings of blacks by making enslaved bodies and trees one in The Conjure Woman. Chesnutt further exposes the economic roots of narratives of white supremacy and proposes alternative (more ecologically sustainable) ways of being human in and with nature. Last but not least, and this is the central question of this presentation, Chesnutt's emphasis on the connection to the ground – they shall not be moved – is a representation of resistance against colonial and racist violence.
Olja Alvir studied German Philology and Comparative Literature in Vienna and Zagreb. She is a tutor in literary theory at the Department of Comparative Literature, University of Vienna. Alvir's research focus lies at the intersections of imagology, deconstruction and nature(s) and her master's thesis deals with the entanglement between body and landscape in Yugoslavian war film. She is also a writer and translator in Vienna and elsewhere.
Mobile Denkwege: Die Assemblage als ästhetisch-politische Figuration bei Haraway und Deleuze/Guattari
Michaela Bstieler
»Es ist unsere Aufgabe«, appelliert Donna Haraway in ihrem programmatischen Buch Unruhig bleiben, »Unruhe zu stiften, zu wirkungsvollen Reaktionen auf zerstörerische Ereignisse aufzurütteln, aber auch auf die aufgewühlten Gewässer zu beruhigen, ruhige Orte wiederaufzubauen.« Haraways Pathos, sich über eine Wissensproduktion Gedanken zu machen, die sich dennoch als unruhig, ja rissig glaubwürdig machen lässt, ist dem Anliegen geschuldet, die Welt des »Anthropozäns« zu verstehen. Vor dem Hintergrund einer sich im Zerfallen begriffenen Ordnung verdaut Haraway genauer eine Geschichte der Gewalt, die sich auf die Differenz zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen zurückführen lässt. In eine ähnliche Stoßrichtung argumentieren bereits Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrer Einleitung zu den Tausend Plateaus, wenn sie sich für ein bewegtes und bewegliches Nachdenken aussprechen, das sie in Anlehnung an den botanischen Jargon als »rhizomatisch« begreifen. Ohne auf eine hierarchische Struktur der Wissensorganisation zu vertrauen, machen auch Deleuze/Guattari von einer Sprachpraxis Gebrauch, die sich an der Infragestellung einer normativen Asymmetrie zwischen verschiedenen Arten und Gattungen orientiert. Anders als traditionelle Wissensordnungen, die eine komplexe Vorgeschichte der Gewalt reflektieren, interessiere ich mich in diesem Vortrag für das Potential einer unruhigen Methode, die Momente des Stillstands konterkariert und stattdessen eine Praxis mobilisiert, die auf artifizielle Zuschreibungen und Dichotomien zu verzichten sucht. In meinem Vortrag möchte ich die These vertreten, dass bei Deleuze/Guattari einerseits und Haraway andererseits ein solcher Denkweg bereits vorgezeichnet und im Konzept der Assemblage epistemologisch vorausgesetzt wird. Entlang dieser ästhetisch-politischen Figur der Verwandtschaft wird es im Zuge meiner Ausführungen darauf ankommen, mit Deleuze/Guattari und Haraway eine Verfahrenstechnik in Anschlag zu bringen, die sich gerade in und kraft ihrer Beweglichkeit auf das Andere hin als politische begreiflich machen lässt.
(EN)
»Our task is to make trouble, to stir up potent response to devastating events, as well as to settle troubled waters and rebuild quiet places,« Donna Haraway writes in her remarkable book Staying with the Trouble. Haraway’s pathos revolves around pondering a type of production of knowledge that can very well be considered as troubled, even flawed. This pathos is rooted in the concern of trying to understand the world of the so-called »Anthropocene«. More specifically, Haraway digests a history of violence within the framework of a collapsing order that can be traced back to the differentiation between human and non-human beings. In a similar vein, Gilles Deleuze and Felix Guattari argue in favor of dynamic and agile ways of reflection in their introduction to A Thousand Plateaus. Making use of botanical jargon, they conceive this type of reflection as »rhizomatic«. Without relying on a hierarchical structure of knowledge organization, Deleuze and Guattari also fall back on linguistic practice oriented towards questioning the normative asymmetry between different species and kinds. In opposition to traditional orders of knowledge that reflect a complex prehistory of violence, I am interested in the potential of a dynamic method that counteracts moments of stasis, and instead mobilizes a practice that seeks to dispense with artificial attributions and dichotomies. In my talk, I will argue that Deleuze/Guattari on the one hand, and Haraway on the other, have already mapped out such a way of thinking and, in doing so, have epistemologically presupposed the concept of assemblage. Thus, two pillars will be important for my remarks: Outlining this aesthetic-political figure of kinship, and applying a procedural technique as laid out by Deleuze/Guattari and Haraway that can be regarded as political precisely in and by virtue of its mobility towards the Other.
Michaela Bstieler studied Philosophy and Educational Sciences at the University of Innsbruck and at the Hebrew University of Jerusalem. Since 2020, she is a pre-doctoral university assistant in the Department of Philosophy at the University of Innsbruck. She is particularly active in the fields of social philosophy, political philosophy and aesthetics. Her main work mainly draws on phenomenological and post-structuralist approaches. Since June 2020, she is a member of the University of Innsbruck’s doctoral program »Dynamics of Inequality and Difference in the Age of Globalization« in the interdisciplinary area »Cultural Encounters – Cultural Conflicts«. Moreover, since September 2020, she is the co-host of the Philosophisches Café Innsbruck with Sergej Seitz. Her most important publication is: Michaela Bstieler (et al.): Kunst als gesellschaftskritisches Medium. Wissenschaftliche und künstlerische Zugänge, Bielefeld: Transcript 2018.